Freitag, 21. Oktober 2011

Warum wir heute ärmer sind

Ich lese immer wieder, dass wir in unserer Generation ja alle mehr Freizeit haben und einen höheren Lebensstandard als alle unsere Vorgängergenerationen. Dies wird als Ursache für alle möglichen gesellschaftlichen Phänomene zitiert, gute wie schlechte. Ich frage mich dann gelegentlich, ob unsere Medien wohl von einer geheimen Macht unterwandert sind, die sie sowas verbreiten lässt, damit die Menschen ruhig bleiben und die Schuld für ihre Probleme bei sich selbst anstatt bei den Rahmenbedingungen, der Wirtschaft, der Politik und ihren verkorksten Werten suchen. Wenn wir es doch alle so gut haben, dann bin ich wohl selbst schuld an meinem Bluthochdruck und meinem Burnout, aber nicht nur das, ich bin auch noch undankbar, schließlich haben meine Ahnen geackert wie blöde und protestiert und aufgeklärt und all sowas, damit ich heute auf der faulen Haut liegen kann, einer typhus- und cholerafreien Haut, und mich meinen Luxusproblemen widmen kann.

Zunächst mal zum Lebensstandard. Die meisten Leute meinen damit Geld, ich will jetzt mal etwas differenzierter sein und nenne es Kaufkraft. Ja, wir kaufen ein wie die Irren; wir sind eine Wegwerfgesellschaft. (Dessen wurde ich auch kürzlich bei O2 belehrt, als ich mich darüber beschwerte, dass das Akkuladegerät, welches natürlich nicht in der Garantie bzw. Gewährleistung enthalten ist, immer nach wenigen Monaten kaputtgeht – das sollte mich wohl irgendwie trösten). Aber bedeutet das im Ernst, dass der Durchschnittsbürger eine große Kaufkraft hat?

Natürlich nicht. Es gibt doch da seit, sagen wir mal, zwei Jahrzehnten so einen Trend, „zurück zu den guten Dingen“, um es in Anlehnung an den Slogan von Manufactum zu sagen - das ist eine Firma, die sehr hochwertige, oft handgemachte Haushaltsutensilien herstellt, und das ohne Einsatz von Kunststoffen oder –fasern, und ohne dass diese mit Strom betrieben werden müssten. Dinge, die so aussehen, als hätten wir sie von Oma geerbt, nur neu.

Wie praktisch alle vergleichbaren Läden und Hersteller richtet sich auch das Angebot von Manufactum gezielt an ein zahlungskräftiges Publikum. Ich sehe ja ein, dass man für Qualität mehr zahlen muss. Bloß kaufe ich dem Unternehmen dann seinen angeblichen Idealismus nicht ab, wenn in München der einzige Laden sich schon mal in einer Einkaufspassage befindet, in die sich ein Normalbürger nicht verirrt, da man dort nur die Sorte Boutique vorfindet, in der im Schaufenster gar keine Preise ausgewiesen sind. (Geld – mit sowas Profanem beschäftigt man sich doch hier nicht.) Aber: Woher hatte dann unsere Oma genau die gleichen Sachen? Die war doch gar nicht reich?

Und wie kommt’s, dass die Oma so feudal eingerichtet war? Okay, ihre Einrichtung hat sich 50 Jahre lang kaum verändert, aber es waren Sachen aus massivem Holz (damals hätte man verwirrt gefragt, na klar, was denn sonst, aus Pappe? – ganz genau!) und selbstredend von einem ausgebildeten Kenner seines Fachs in sorgfältiger Handarbeit hergestellt. Wer kann es sich heute noch leisten, seine Möbel bei einem Tischler in Auftrag zu geben? Nur ausgeflippte Bonzen, die in preisbefreiten Boutiquen und bei Manufactum einkaufen.

Wenn bei der Oma der Sparschäler stumpf war, hat sie den nicht weggeschmissen und einen billigen neuen gekauft, der dann nach einem Jahr wieder ersetzt werden musste, sondern sie hat ihn beim Messerschleifer wieder in Schuss bringen oder eine neue Klinge einsetzen lassen. Und das hat sie gemacht, ganz ohne dabei über Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung oder Umweltschutz nachzudenken. Socken wurden gestopft und hielten danach wieder fünf Jahre, Schuhe neu besohlt, und so weiter. Angenommen wir hätten die Muße, unsere Schuhe neu besohlen zu lassen, wäre das in den meisten Fällen Zeit- und Geldverschwendung, weil heute die Sohlen nicht mehr angenäht, sondern nur noch angeklebt werden, und der Schuh mitsamt der Sohle eine entsprechend kurze Lebenserwartung hat. Socken stopfen? Kann man machen, aber ich kann aus eigener Erfahrung bezeugen, dass die direkt neben der Stopfstelle sofort wieder einreißen, wenn ihre eingebaute Lebensdauer abgelaufen ist. Denn die scheint es durch die Bank bei Textilien, Möbeln und Haushaltswaren inzwischen zu geben. Built-in obsolescence heißt das: eingebauter Verfall.

Außerdem sind neue Socken ja so billig und unsere Zeit so knapp bemessen. Aber dazu später mehr.

Jetzt sollen sich alle mal ganz ehrlich melden, die bei Möbeln nicht sofort an IKEA denken. Aha, dachte ich‘s mir. IKEA ist heute so etwas von übermächtig, dass man als Normalverdiener nicht daran vorbei kommt. In der Preisklasse gibt es nichts Vergleichbares. Wobei ich anmerken möchte, dass IKEA nicht unbedingt so richtig billig ist. Richtig billig sind Roller oder Poco, aber deren Möbel sehen auch wirklich bockhässlich aus. Wer also kein Arzt, Anwalt oder Vorstandsvorsitzender ist, aber dennoch keine Schrankwand will, die „Hartz IV“ schreit, kauft bei IKEA. Außerdem tut IKEA wenigstens noch so, als operiere es umwelt- und sozialverträglich. Das ist doch nett.

IKEA ist heute sowas wie eine zentrale VEB Einrichtungswaren. Eine Anlaufstelle für alle. Ich kann inzwischen am Sofastoff erkennen, in welcher Saison sich jemand sein Ektorp gekauft hat. Wenn IKEA irgendwelche bestimmten Glühbirnen aus dem Sortiment nimmt, die man für seine IKEA-Lampen braucht, möchte man am liebsten beim europäischen Parlament eine Petition einreichen. Dann fällt einem wieder ein, dass wir ja hier eine freie Marktwirtschaft haben und man rein theoretisch zur Konkurrenz gehen könnte. Höhö.

Freilich, besonders lang halten die meisten Möbel nicht, und das, obwohl IKEA sich schon seit längerem seines Ramsch-Images entledigt hat. Dies wurde unter anderem dadurch erreicht, dass IKEA etwa auf Küchenmöbel und Sofas 10 Jahre Garantie gibt, wie in jedem Katalog nachzulesen ist. Natürlich bin auch ich Besitzerin einer IKEA-Küche sowie eines IKEA-Ektorp-Sofas. Letzteres besitze ich erst seit etwas über einem Jahr. Als ich vor kurzem an dem Möbelstück Mängel entdeckte, machte ich davon ein Foto und schickte mich an, auf der Internetseite eine Emailadresse oder eine Telefonnummer zu orten, mit deren Hilfe ich eine Reklamation durchführen könnte. Natürlich gab es so etwas nicht, sondern nur ein Formular. Dieses füllte ich sorgsam aus, gab brav die Quittungsnummer an, lud mein Bild hoch und schickte die Nachricht ab, woraufhin die Webseite mir meldete, ich müsse mich wohl einige Zeit gedulden, da die freundlichen Mitarbeiter alle Hände voll zu tun hätten. Nun ja, ich warte jetzt seit 6 Wochen, und ich habe den Verdacht, dass die freundlichen Mitarbeiter einen Scheiß auf mich und mein Sofa geben.

Insgesamt lässt sich feststellen: Vorbildliches Konsumverhalten und die Freude an hochwertigen (oder, wie man heute mit Bescheidenheit sagt, „wertigen“) Produkten ist den Wohlhabenden vorbehalten. Denn der Spruch „wer billig kauft, kauft zweimal“ stimmt zwar irgendwie, aber irgendwie eben auch wieder nicht ganz. Die Rechnung geht deshalb nicht auf, weil Billigprodukte heute so verflixt billig sind und Qualität so verflixt teuer, dass es sich aus rein finanzieller Sicht selbst auf lange Sicht eher lohnt, ein Wegwerfer zu sein. Und ja, aufs Geld müssen die aller-aller-allermeisten nun mal heutzutage wirklich täglich und bei jeder Anschaffung schauen, verdammt noch eins.

Klar, es macht auch Spaß, sich immer mal was Neues zu kaufen. Ich will ja gar nicht leugnen, dass es in unserer Gesellschaft auch gelegentlich das Phänomen gibt, dass man gerne etwas wegwirft, weil man dann einen guten Grund hat, sich etwas Neues zu kaufen. Und klar hatte die Oma kein zwei Meter breites Flachbildschirmfernsehempfangsgerät, das sie über 24 Monate abzahlen musste. Hat sie auch nicht vermisst. Bei solchen Sachen behaupte ich einfach, dass man sie nur will, weil andere sie haben. Auch wenn man sich dann irgendwelche rationalen Gründe ausdenkt, warum das eine vernünftige Anschaffung (oder noch vernünftiger: Investition) ist.

Wir haben also wenig Kaufkraft, und das obwohl wir zwischen 40 und sagen wir mal 70 Stunden pro Woche arbeiten, wenn wir Glück und damit Arbeit haben. Und dies wiederum trotz der ganzen Automatisierung, die uns doch angeblich so furchtbar viel unangenehme Arbeit abnimmt, so dass wir, glaubt man der Theorie, fast in dem Idealzustand angekommen sind, wo wir nur noch das Angenehme machen müssen. Also ich weiß ja nicht wie es anderen geht, aber ich komme vor lauter Arbeiten (obwohl das eigentlich der PC macht) gar nicht mehr dazu, mal die Wäsche zu waschen (obwohl das eigentlich die Waschmaschine macht) oder die Wohnung zu reinigen (obwohl das eigentlich der Staubsauger macht).

Der Bauer und seine Familie hatten früher eigentlich nur im Frühjahr und Spätsommer alle Hände voll zu tun. Da haben die sicher auch mal eine 70-Stunden-Woche hingelegt. Aber den Rest der Zeit ließ man es sich gutgehen, abgesehen vom Sockenstopfen und Durchkehren. Das, was bei uns heutzutage die „lästige Hausarbeit“ ist, zu der wir wegen unserer „eigentlichen Arbeit“ nicht mehr kommen, das war einmal die eigentliche Arbeit. Sicherlich umfangreicher als kochen und putzen, aber im Grunde nichts anderes: ernten, Vorräte einkochen, stricken, undsoweiter. (A propos: Die Kinderbetreuung war nicht halb so aufwändig wie heute, da es genug Tanten und Onkels und Omas und Opas und andere Kinder und außerdem autofreie Wiesen und Wälder gab, um diese zu unterhalten.) Und anders als in einem modernen Beruf war man kein Rädchen in einer großen Maschinerie, das einen abstrakten Beitrag zur deren Betrieb leistet, sondern man konnte die Früchte seiner Arbeit sehen, anfassen und davon unmittelbar satt werden. Und: es war alles Bio! Auch das ist heute unerschwinglich.

Den Preis für unseren so genannten Fortschritt, der in Wahrheit ein Rückschritt ist, zahlen wir mit Hektik – und unserer Gesundheit. Denn obwohl wir heute vielleicht im Durchschnitt ein paar Jahre älter werden, leiden wir immer früher, und dann bis ans Lebensende, an chronischen und/oder degenerativen Erkrankungen. Auch die Anzahl der von Depression Betroffenen steigt bekanntlich stetig. Wenn man dem in den Medien besungenen (relativen) "Wohlstand für Alle" Glauben schenkt, dann sind wir in unserer Generation ein Haufen Weicheier -- wie sonst lässt es sich erklären, dass wir nicht vor Freude, Kraft und Lebensmut strotzen?