Mittwoch, 8. März 2017

Frauentag

Es ist Frauentag, und ausgerechnet heute kriege ich über den Elternverteiler der Schulklasse der Großen (9 Jahre) eine Mail mit dem Beschluss, die Jungen in unserem Hort bräuchten mehr speziell auf sie zugeschnittene Freizeitangebote. Es reicht anscheinend nicht, dass sie den Fußballplatz komplett für sich beanspruchen, während die Mädchen keinen Raum für sich reservieren. Ich weiß ja, worum es geht: die Jungs sind in letzter Zeit außer Rand und Band. Das macht es für alle schwer, denn das Lernen ist so gut wie unmöglich, wenn ständig jemand stört. Meine Tochter findet das ziemlich bescheiden. Sie mag es nicht, wenn die Lehrerin ständig genervt ist wegen des respektlosen Verhaltens der Jungen. Sie mag auch die Lautstärke im Klassenzimmer nicht. Ich weiß auch, dass die Lehrerin eine Theorie darüber hat, warum die Jungen in letzter Zeit so ein unsoziales Verhalten an den Tag legen. Es gab im Hort vor einiger Zeit einen Personalwechsel, und die neue Erzieherin legte Wert auf ein halbwegs ruhiges und ordentliches Verhalten im Hortzimmer. Da die Jungen einen größeren Bewegungsdrang haben als die Mädchen, so die Theorie, können sie ihre Energien nicht konstruktiv im Hortgebäude ausleben (draußen allerdings schon noch, denn es stand jederzeit jedem frei, in den Hof zu gehen), weshalb sie vormittags den Unterricht stören.

Zunächst mal: es gibt keine einzige ernstzunehmende Studie, die belastbare Hinweise darauf liefert, dass signifikante Unterschiede im Verhalten, zum Beispiel im Bewegungsdrang, tatsächlich durch das Geschlecht determiniert wären. Sehr wohl gibt es jedoch eine schier überwältigende Fülle an Hinweisen darauf, dass unsere oft unbewussten Erwartungen daran, wie sich Kinder eines bestimmten Geschlechts wohl verhalten werden, das tatsächliche Verhalten unserer Kinder prägen. Kinder haben praktisch von Geburt an sehr feine Antennen dafür, wer wen wie behandelt und wer zu welcher Gruppe gehört, zu welcher Gruppe sie selber gehören und welches Verhalten für sie demzufolge akzeptabel ist. Da können die Eltern noch so aufgeklärt sein und ihrer Tochter beharrlich den Bagger hinschieben. Ab einem gewissen Alter kriegen die Kinder trotzdem spitz, dass man als Mädchen malt, Bücher anguckt und mit Puppen spielt. Und vor allem kriegen sie eines spitz: dass man als Frau und Mädchen ganz viel Wert darauf legen muss, gemocht zu werden. Und gemocht wird man, wenn man sich anpasst. Nicht zu laut ist. Nicht zu wild ist. Nicht zu viele Forderungen stellt. Wenn man freundlich ist und gehorcht.

Es gibt nämlich ein Vokabular speziell für Mädchen, die sich nicht anpassen. Da wären beispielsweise „Hexe“ und „Zicke“ und auch mal „Diva“. Jungen, die sich nicht anpassen, heißen dagegen „typisch Junge“.

Mädchen sind in der Schule besser als Jungen. Darüber gibt es viel Unzufriedenheit. Man sucht die Fehler in der Schule. Anscheinend liegt es daran, dass die Lehrer oft Frauen sind. Die Frauen sind schuld. Nicht die Jungen und schon gar nicht deren Erziehung. Man stelle sich vor, es wäre andersherum: die Mädchen wären generell schlechter. Verbreitet wäre eine andere Theorie: dass Mädchen halt weniger intelligent sind. Dass Mädchen in den Naturwissenschaften der höheren Klassenstufen nachlassen, wird ja nicht nur unter vorgehaltener Hand damit begründet. („Naja, Mädchen und Logik halt.“) Dass Jungen durch die Bank jedoch schlechter sind, liegt eindeutig am System. Okay, es liegt vielleicht auch an den Jungen. Aber dann daran, dass sie so unkonventionell sind. Freigeister, die sich nicht anpassen. Die sich in kein Schema pressen lassen. Wie man es dreht und wendet, die Jungen kommen irgendwie immer gut dabei weg, die Mädchen und Frauen dagegen schlecht. Schon merkwürdig, wie das immer funktioniert.

Mal ganz ehrlich. Wen kümmert’s, wenn Jungen schlechter sind? Sie kriegen am Ende trotzdem die besseren Jobs. So, jetzt ist es raus. Erstens, weil sie keine Kinder kriegen können. Zweitens, weil Männern generell mehr zugetraut wird. Und drittens, weil sie im Job selbstbewusster auftreten. Weil sie ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Weil sie klar sagen, was sie wollen, und nicht um jeden Preis gefallen wollen. Weil sie sich nicht ohne Weiteres unterbrechen lassen, sondern eher selber mal dazwischenrufen, wenn ihnen was nicht passt. Schließlich wissen sie schon ihr ganzes Leben: so macht man das als Junge. Auch wenn die Lehrerin mal über mangelnde Disziplin meckert: ich höre doch, wie sie meinen Eltern erzählt, dass dies ein „typisches Jungsproblem“ ist. Und so weiß ich, dass mein Verhalten geschlechtskonform ist. Ich bin in Ordnung.

Seit Jahrzehnten werden der Gender Wage Gap und diverse gläserne Decken beklagt, seit Jahrzehnten wird im Gegenzug den Frauen dafür die Schuld in die Schuhe geschoben, weil sie Vorgesetzten und Kollegen gegenüber einfach keine klaren Ansagen machen, sondern lieber defensiv auftreten. Das hört sich doch angesichts der Art, wie wir ‑ heutzutage sogar wieder vermehrt ‑ Sexismus in der Erziehung leben, ein bisschen lächerlich an, oder nicht?

Ich bin übrigens überzeugt: wenn sich der Trend fortsetzt und eines Tages vielleicht 75% der Abiturienten Frauen sind, werden die Personaler beschließen, dass sie Musterschüler nicht mehr so gerne einstellen, weil diese so angepasst sind und nicht kreativ genug. Schon merkwürdig, wie das immer funktioniert.

Zurück zum Fußballplatz und den „Jungsaktivitäten“ (natürlich alles im weitesten Sinne „Sport“): Ich bin es einfach Leid, immer wieder das Gleiche zu sagen, nämlich dass man bestehende Rollenklischees nicht noch verfestigen sollte. Es ist für mich schwer zu fassen und unglaublich frustrierend, dass wir nach all den Jahren – will sagen: 30 Jahre nach meiner eigenen Grundschulzeit – nicht weiter sind, sondern uns rückwärts bewegen. Dabei stehe ich mit dieser Feststellung oft allein auf weiter Flur. Ich führe diese Diskussionen nicht erst seit gestern. Die erbittertsten Verfechter des Status Quo sind dabei fast immer Jungs-Mütter. (Mit Vätern diskutiere ich selten über Erziehung, die sind ja meistens arbeiten, wenn diese Diskussionen stattfinden.) Anscheinend fällt es unendlich schwer, die eigenen Erwartungen und subjektiven Erfahrungen auch mal kritisch zu hinterfragen. „Aber der Max hat schon im Mutterleib mehr getreten als die Emma!“ „Aber die Frieda steht ganz von allein auf Pink, das hat sie nicht von mir!“

Dabei werden die unterschiedlichsten Erfahrungen auch gern so zurechtgepresst, dass sie wieder ins Erwartungs-Schema passen. Wenn der Otto bei der Geburt schwerer war als die Emily, dann liegt es natürlich daran, dass er ein strammer Junge und sie ein zartes Mädchen ist. (Ganz egal, dass es statistisch gesehen beim Geburtsgewicht nur minimale Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt.) Wenn die Anna vor dem Jonathan das Sprechen gelernt hat, dann liegt es natürlich daran, dass der Oskar seine Energie zu dem Zeitpunkt in die motorischen Fähigkeiten gesteckt hat. Oder sowas. (Auch hier wieder: zum Teufel mit der Statistik.) Wenn der Otto bei der Geburt schmächtiger gewesen wäre, wäre er halt ein Denkertyp, und wenn der Jonathan so früh gesprochen hätte, dann weil er so intelligent ist.

Wie ich schon sagte: schon merkwürdig, wie das immer funktioniert. Genauso merkwürdig wie die Bewertung weiblicher und männlicher Leistungen im Beruf und im Privatleben. Klar, am meisten kümmern sich Mütter um den Nachwuchs, Väter sind ja meistens zu beschäftigt. Aber wisst ihr, wer die Kinderbetreuung eigentlich viel toller hinkriegt als Mütter? Klar, Väter. Die sind so spontan. Die sind so körperbetont. Die sind so lustig und nicht so überbehütend. Mütter sind OK für den Alltag, Väter sind einfach der Wahnsinn. Und kochen, klar, kochen tun auch meistens Frauen. Aber wisst ihr, wer richtig toll kocht, so dass er damit berühmt werden kann und im Fernsehen auftritt? Klar, meistens ein Mann. Weil, öhm, weil halt. Weil Frauen für den Hausgebrauch OK sind, aber Männer eben das gewisse Etwas mitbringen. Und klar, die meisten Erzieher sind Frauen. Aber wisst ihr, wer richtig gut ist als Erzieher? Ein Mann, weil der a) siehe „Väter“ und b) nämlich Ruhe in den „Hühnerstall“ bringt (ja, mehrfach so gehört!) und deswegen gut fürs Arbeitsklima ist. Daher sollte am besten ein Mann das Team führen.

Was für ein Bild wird da von Frauen vermittelt und vor allem weitergetragen? Dass wir irgendwie nicht ganz zurechnungsfähig sind. Dass wir einen Mann brauchen, der uns sagt, wo’s langgeht. Und dass wir mangelhaft sind. Nicht mal die Sachen, die eine „Frauendomäne“ sind, können wir richtig gut. Neee du, das machen die Männer nur deswegen nicht, weil ihnen das zu langweilig ist. Wenn sie wollen, dann können die das, und sogar viel besser.

Frauen haben eigentlich keine „Domänen“. Die meisten so genannten Frauendomänen sind Männern gegenüber weitaus aufgeschlossener, als dies andersherum der Fall ist. Und da wären wir wieder beim Fußballplatz. Der ist an normalen Tagen eine mädchenfreie Zone. Wie soll sich ein Mädchen da heranwagen? Wie soll ein Mädchen sich ausprobieren in einem möglicherweise noch fremden Sport, wenn es weiß, dass es mit jedem verpatzten Schuss riskiert, eine ganz bestimmte Sorte Spott auf sich zu ziehen? Meine Tochter war drei Jahre alt, als ein Junge ihr zum ersten Mal sagte, sie könnte bestimmte Dinge nicht (in diesem Fall war es „Ritter sein“), weil sie ein Mädchen ist. Verhaltensstudien zeigen, dass die Angst vor Diskriminierung sehr viel stärker hemmt als die Angst vor einer negativen Wertung, die sich nur auf die individuelle Leistung bezieht. Dieses Phänomen kann man mit einem wachen Auge jeden Tag beobachten, wenn man zusieht, wie unsere Mädchen sich mit jedem Lebensjahr nicht mehr, sondern weniger (zu)trauen. 

Ich sage: es sollte mehr Bewegungsangebote nur für Mädchen geben und somit eine wertungsfreie Zone zur Verfügung gestellt werden. Die Jungen dürfen in der Zeit „Jungsbasteln“ und „Jungsmalen“ machen. Das ist meditativ und beruhigt.