Es ist Frauentag, und ausgerechnet heute kriege ich über den
Elternverteiler der Schulklasse der Großen (9 Jahre) eine Mail mit dem
Beschluss, die Jungen in unserem Hort bräuchten mehr speziell auf sie
zugeschnittene Freizeitangebote. Es reicht anscheinend nicht, dass sie den
Fußballplatz komplett für sich beanspruchen, während die Mädchen keinen Raum
für sich reservieren. Ich weiß ja, worum es geht: die Jungs sind in letzter
Zeit außer Rand und Band. Das macht es für alle schwer, denn das Lernen ist so
gut wie unmöglich, wenn ständig jemand stört. Meine Tochter findet das ziemlich
bescheiden. Sie mag es nicht, wenn die Lehrerin ständig genervt ist wegen des
respektlosen Verhaltens der Jungen. Sie mag auch die Lautstärke im
Klassenzimmer nicht. Ich weiß auch, dass die Lehrerin eine Theorie darüber hat,
warum die Jungen in letzter Zeit so ein unsoziales Verhalten an den Tag legen. Es
gab im Hort vor einiger Zeit einen Personalwechsel, und die neue Erzieherin
legte Wert auf ein halbwegs ruhiges und ordentliches Verhalten im Hortzimmer. Da
die Jungen einen größeren Bewegungsdrang haben als die Mädchen, so die Theorie,
können sie ihre Energien nicht konstruktiv im Hortgebäude ausleben (draußen
allerdings schon noch, denn es stand jederzeit jedem frei, in den Hof zu
gehen), weshalb sie vormittags den Unterricht stören.
Zunächst mal: es gibt keine einzige ernstzunehmende Studie,
die belastbare Hinweise darauf liefert, dass signifikante Unterschiede im
Verhalten, zum Beispiel im Bewegungsdrang, tatsächlich durch das Geschlecht
determiniert wären. Sehr wohl gibt es jedoch eine schier überwältigende Fülle
an Hinweisen darauf, dass unsere oft unbewussten Erwartungen daran, wie sich
Kinder eines bestimmten Geschlechts wohl verhalten werden, das tatsächliche
Verhalten unserer Kinder prägen. Kinder haben praktisch von Geburt an sehr
feine Antennen dafür, wer wen wie behandelt und wer zu welcher Gruppe gehört, zu
welcher Gruppe sie selber gehören und welches Verhalten für sie demzufolge
akzeptabel ist. Da können die Eltern noch so aufgeklärt sein und ihrer Tochter beharrlich
den Bagger hinschieben. Ab einem gewissen Alter kriegen die Kinder trotzdem
spitz, dass man als Mädchen malt, Bücher anguckt und mit Puppen spielt. Und vor
allem kriegen sie eines spitz: dass man als Frau und Mädchen ganz viel Wert
darauf legen muss, gemocht zu werden. Und gemocht wird man, wenn man sich
anpasst. Nicht zu laut ist. Nicht zu wild ist. Nicht zu viele Forderungen
stellt. Wenn man freundlich ist und gehorcht.
Es gibt nämlich ein Vokabular speziell für Mädchen, die sich
nicht anpassen. Da wären beispielsweise „Hexe“ und „Zicke“ und auch mal „Diva“.
Jungen, die sich nicht anpassen, heißen dagegen „typisch Junge“.
Mädchen sind in der Schule besser als Jungen. Darüber gibt
es viel Unzufriedenheit. Man sucht die Fehler in der Schule. Anscheinend liegt
es daran, dass die Lehrer oft Frauen sind. Die Frauen sind schuld. Nicht die
Jungen und schon gar nicht deren Erziehung. Man stelle sich vor, es wäre
andersherum: die Mädchen wären generell schlechter. Verbreitet wäre eine andere
Theorie: dass Mädchen halt weniger intelligent sind. Dass Mädchen in den
Naturwissenschaften der höheren Klassenstufen nachlassen, wird ja nicht nur
unter vorgehaltener Hand damit begründet. („Naja, Mädchen und Logik halt.“)
Dass Jungen durch die Bank jedoch schlechter sind, liegt eindeutig am System.
Okay, es liegt vielleicht auch an den Jungen. Aber dann daran, dass sie so
unkonventionell sind. Freigeister, die sich nicht anpassen. Die sich in kein
Schema pressen lassen. Wie man es dreht und wendet, die Jungen kommen irgendwie
immer gut dabei weg, die Mädchen und Frauen dagegen schlecht. Schon merkwürdig,
wie das immer funktioniert.
Mal ganz ehrlich. Wen kümmert’s, wenn Jungen schlechter
sind? Sie kriegen am Ende trotzdem die besseren Jobs. So, jetzt ist es raus. Erstens,
weil sie keine Kinder kriegen können. Zweitens, weil Männern generell mehr
zugetraut wird. Und drittens, weil sie im Job selbstbewusster auftreten. Weil
sie ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Weil sie klar sagen, was sie
wollen, und nicht um jeden Preis gefallen wollen. Weil sie sich nicht ohne Weiteres
unterbrechen lassen, sondern eher selber mal dazwischenrufen, wenn ihnen was
nicht passt. Schließlich wissen sie schon ihr ganzes Leben: so macht man das
als Junge. Auch wenn die Lehrerin mal über mangelnde Disziplin meckert: ich
höre doch, wie sie meinen Eltern erzählt, dass dies ein „typisches Jungsproblem“
ist. Und so weiß ich, dass mein Verhalten geschlechtskonform ist. Ich bin in
Ordnung.
Seit Jahrzehnten werden der Gender Wage Gap und diverse
gläserne Decken beklagt, seit Jahrzehnten wird im Gegenzug den Frauen dafür die
Schuld in die Schuhe geschoben, weil sie Vorgesetzten und Kollegen gegenüber einfach
keine klaren Ansagen machen, sondern lieber defensiv auftreten. Das hört sich
doch angesichts der Art, wie wir ‑ heutzutage sogar wieder vermehrt ‑ Sexismus
in der Erziehung leben, ein bisschen lächerlich an, oder nicht?
Ich bin übrigens überzeugt: wenn sich der Trend fortsetzt
und eines Tages vielleicht 75% der Abiturienten Frauen sind, werden die
Personaler beschließen, dass sie Musterschüler nicht mehr so gerne einstellen,
weil diese so angepasst sind und nicht kreativ genug. Schon merkwürdig, wie das
immer funktioniert.
Zurück zum Fußballplatz und den „Jungsaktivitäten“
(natürlich alles im weitesten Sinne „Sport“): Ich bin es einfach Leid, immer
wieder das Gleiche zu sagen, nämlich dass man bestehende Rollenklischees nicht
noch verfestigen sollte. Es ist für mich schwer zu fassen und unglaublich
frustrierend, dass wir nach all den Jahren – will sagen: 30 Jahre nach meiner
eigenen Grundschulzeit – nicht weiter sind, sondern uns rückwärts bewegen. Dabei
stehe ich mit dieser Feststellung oft allein auf weiter Flur. Ich führe diese
Diskussionen nicht erst seit gestern. Die erbittertsten Verfechter des Status
Quo sind dabei fast immer Jungs-Mütter. (Mit Vätern diskutiere ich selten über
Erziehung, die sind ja meistens arbeiten, wenn diese Diskussionen stattfinden.)
Anscheinend fällt es unendlich schwer, die eigenen Erwartungen und subjektiven Erfahrungen
auch mal kritisch zu hinterfragen. „Aber der Max hat schon im Mutterleib mehr
getreten als die Emma!“ „Aber die Frieda steht ganz von allein auf Pink, das
hat sie nicht von mir!“
Dabei werden die unterschiedlichsten Erfahrungen auch gern
so zurechtgepresst, dass sie wieder ins Erwartungs-Schema passen. Wenn der Otto
bei der Geburt schwerer war als die Emily, dann liegt es natürlich daran, dass
er ein strammer Junge und sie ein zartes Mädchen ist. (Ganz egal, dass es
statistisch gesehen beim Geburtsgewicht nur minimale Unterschiede zwischen den
Geschlechtern gibt.) Wenn die Anna vor dem Jonathan das Sprechen gelernt hat,
dann liegt es natürlich daran, dass der Oskar seine Energie zu dem Zeitpunkt in
die motorischen Fähigkeiten gesteckt hat. Oder sowas. (Auch hier wieder: zum
Teufel mit der Statistik.) Wenn der Otto bei der Geburt schmächtiger gewesen
wäre, wäre er halt ein Denkertyp, und wenn der Jonathan so früh gesprochen
hätte, dann weil er so intelligent ist.
Wie ich schon sagte: schon merkwürdig, wie das immer
funktioniert. Genauso merkwürdig wie die Bewertung weiblicher und männlicher
Leistungen im Beruf und im Privatleben. Klar, am meisten kümmern sich Mütter um
den Nachwuchs, Väter sind ja meistens zu beschäftigt. Aber wisst ihr, wer die
Kinderbetreuung eigentlich viel toller hinkriegt als Mütter? Klar, Väter. Die sind
so spontan. Die sind so körperbetont. Die sind so lustig und nicht so
überbehütend. Mütter sind OK für den Alltag, Väter sind einfach der Wahnsinn.
Und kochen, klar, kochen tun auch meistens Frauen. Aber wisst ihr, wer richtig
toll kocht, so dass er damit berühmt werden kann und im Fernsehen auftritt?
Klar, meistens ein Mann. Weil, öhm, weil halt. Weil Frauen für den Hausgebrauch
OK sind, aber Männer eben das gewisse Etwas mitbringen. Und klar, die meisten Erzieher
sind Frauen. Aber wisst ihr, wer richtig gut ist als Erzieher? Ein Mann, weil
der a) siehe „Väter“ und b) nämlich Ruhe in den „Hühnerstall“ bringt (ja,
mehrfach so gehört!) und deswegen gut fürs Arbeitsklima ist. Daher sollte am
besten ein Mann das Team führen.
Was für ein Bild wird da von Frauen vermittelt und vor allem
weitergetragen? Dass wir irgendwie nicht ganz zurechnungsfähig sind. Dass wir
einen Mann brauchen, der uns sagt, wo’s langgeht. Und dass wir mangelhaft sind.
Nicht mal die Sachen, die eine „Frauendomäne“ sind, können wir richtig gut. Neee
du, das machen die Männer nur deswegen nicht, weil ihnen das zu langweilig ist.
Wenn sie wollen, dann können die das, und sogar viel besser.
Frauen haben eigentlich keine „Domänen“. Die meisten so
genannten Frauendomänen sind Männern gegenüber weitaus aufgeschlossener, als
dies andersherum der Fall ist. Und da wären wir wieder beim Fußballplatz. Der
ist an normalen Tagen eine mädchenfreie Zone. Wie soll sich ein Mädchen da
heranwagen? Wie soll ein Mädchen sich ausprobieren in einem möglicherweise noch
fremden Sport, wenn es weiß, dass es mit jedem verpatzten Schuss riskiert, eine
ganz bestimmte Sorte Spott auf sich zu ziehen? Meine Tochter war drei Jahre
alt, als ein Junge ihr zum ersten Mal sagte, sie könnte bestimmte Dinge nicht
(in diesem Fall war es „Ritter sein“), weil sie ein Mädchen ist. Verhaltensstudien
zeigen, dass die Angst vor Diskriminierung sehr viel stärker hemmt als die
Angst vor einer negativen Wertung, die sich nur auf die individuelle Leistung
bezieht. Dieses Phänomen kann man mit einem wachen Auge jeden Tag beobachten,
wenn man zusieht, wie unsere Mädchen sich mit jedem Lebensjahr nicht mehr,
sondern weniger (zu)trauen.
Ich sage: es sollte mehr Bewegungsangebote nur für
Mädchen geben und somit eine wertungsfreie Zone zur Verfügung gestellt werden.
Die Jungen dürfen in der Zeit „Jungsbasteln“ und „Jungsmalen“ machen. Das ist
meditativ und beruhigt.